Alles rot
eine literarische Intervention zum Thema »Was ist los mit der Wahrheit? (im Rahmen der Eröffnung der »europäischen Toleranzgespräche« 2024)
Ein früher Morgen im Mai. Ich bin vier Jahre alt. Ich nehme Mutters Lippenstift aus dem beige-vergilbten Allibert mit den abgenützten Kanten in diesem kleinen Badezimmer und zwischen Kinderdaumen und Zeigefinger und beginne, die ölig schmierige Farbe in meinem Gesicht zu verteilen. Es kostet mich Geduld, es kostet mich Mühe, es handelt sich um Feinstarbeit, eine Tüftelei, aber ich bin geschickt, ganz akkurat gehe ich vor, ganz vorsichtig. Mund- und Augenpartie bleiben fein säuberlich ausgespart. Das Gesicht im Spiegel mein Ausmalbild mit klaren Konturen. Und dann – – endlich: Alles rot. Ein kleines rotes Gespenst grinst mich an. Ein Gespenst? Doch ich habe keine Angst davor – ich bin stolz. Ganz glüh- und sprühfarbig geh ich zum Schrank, hole Mutters froschgrünes Sakko heraus, doch damit das gelingt, muss ich erst auf das Schrankbrett klettern, meine kurzen Ärmchen reichen sonst gar nicht dorthin, wo ich es endlich vom Bügel lupfen kann. Schultern, Rumpf, Arme, Beinchen, alles verliert sich jetzt in Mutters geheimnisvollem Körperzelt, die Ärmel baumen lose herab.
An diesem frühen Maimorgen sieht Mutter dasselbe rote Gesicht, wie ich es im Spiegel betrachten kann, doch sie empfindet – zumindest im ersten Moment, und davon wird sie mir erst viel später erzählen – etwas ganz anderes dabei. Sie sieht: Ihr Kind, das sich mit heißem Wasser das Gesicht verbrüht hat, das grüne Superheldinnenkostüm fällt ihr erst gar nicht auf. Meine Phantasie verschlingt in diesem Moment Mutters Realität. Mutters Realität fällt einer Täuschung anheim. Ich sehe: meine Superkraft. Ich bin jetzt rote Superheldin mit grünem Cape, Abrakadabra, und schon kann ich fliegen. Mit lauten Geräuschen mach ich mich auf den Flug. Mutter direkt in die Arme. Die sie sofort nach mir ausstreckt, als wäre etwas Ungeheuerliches geschehen. Ich sehe in ihr angstverzerrtes Gesicht, Bestürzung zeichnet sich in groben schwarzen Linien ab, das Muttergesicht sieht jetzt anders aus als sonst, gar nicht mehr: sanft. Ein Tosen entfährt unseren beiden Mündern, auch Mutter stößt ihr Unbehagen aus – bis sie ihren glücklichen Irrtum bemerkt, doch bis dahin – Die Erwachsenen erwarten immer das Schlimmste.
Kinderaugen nehmen anders wahr als Mutteraugen. Keine Neuheit. Eine Wahrheit. Meine und Mutters Wirklichkeit sind jetzt ganz und gar entwirklicht voneinander. Die Fäden, die unsere Stoffe zusammenhalten sollen, folgen nicht demselben Nahtmuster. Was für mich nur ein Spiel, ist für Mutter ein kurzer Albtraum, den sie aber für die Realität hält.
Die Wirklichkeit und ihre Farben betrachten wir subjektiv. Ähnlich Vexierbildern, Arcimboldos Luft aus 4 Elementen, seinen Herbst aus 4 Jahreszeiten. Mein feuerrotes Gesicht: das einer Superheldin aus einer fantastischen Welt? Oder zerstörte Menschenhaut?
Es ist wahr. Hier prallen Wirklichkeiten aneinander. Korrelieren oder bedingen sich oder schließen sich gegenseitig aus. Doch was passiert, wenn wir Wirklichkeiten oder Phantasien mit der Wahrheit verwechseln? Was ist die Wahrheit, die alles zusammenhält?
Wenn wir die Subjektivität von Wirklichkeiten und unsere Fähigkeit der Phantasie mit Wahrheit verwechseln, wirft das auch die Frage auf, wie genau wir zwischen Wirklichkeiten und Wahrheit überhaupt unterscheiden können. Wie viel Vertrauen sollen wir dem Phantasiekasten in unserem Gehirn denn entgegenbringen? Wie vertrauenswürdig ist der überhaupt? Phantasie zimmert ja nicht nur die Welt der Superwesen für uns zusammen und lässt uns in sie hineinschlüpfen. Oder erschafft neue Welten – die künstlerische ist nur eine davon. Die Phantasie hilft uns auch, uns zu entscheiden – und uns zurechtzufinden. Und in der Phantasie eines Kindes, seinem magischen Denken, seiner Neugier, die Welt zu betrachten und sie zu erkunden, liegt auch: der Sanftmut der Wahrheit.
Und die Wahrheit selbst? Sie ist nicht verhandelbar. Genauso wenig wie die Schwerkraft. Die menschengemachte Klimakrise. Putins Terrorregime. Oder dass eine blaue Parteifarbe nichts mit der grenzenlosen Freiheit des Himmels zu tun hat.
Wird die Phantasie, die Vorstellungskraft manipuliert, kann sie sich auch so weit von der Realität entfernen, dass es gefährlich wird. Besonders dann, wenn ein Mangel an Wissen besteht. Ein Mangel an Wahrheit begünstigt: Alternative Fakten, Verschwörungstheorie, Junk Sciene, Geschichtsrevisionismus, Wissenschaftsskepsis, Propaganda. Wiederum eine Wahrheit: Es ist die Agnotologie, die sich mit der bewussten Verbreitung von Unwissen beschäftigt. Meine Wahrheit ist nicht deine Wahrheit?
Der Mensch besteht aus Knochen, Fleisch, Blut, Speichel, Zellen und Eitelkeit. Diesem Kurt-Tucholsky-Zitat kann wohl keine Wahrheit widersprechen. Und: Wahrheiten werfen Schatten: auch eine Wahrheit. Wieder ein Bild aus der Kindheit: Ich bin zwölf Jahre alt. Die Flasche dreht sich nicht von allein. Wahrheit oder Pflicht? Ja, die Wahrheit kann auch unangenehm sein. Eine Wahrheit: Mit Phantasie lassen sich Dystopien ausmalen. Wie viel Wahrheit stecken wir hinein? Die Welt wird aus der Perspektive des Menschen betrachtet. Es ist berechtigt, dass es uns Unruhe bereitet, es könnte einmal nicht mehr so sein – weil künstliche Intelligenz Bewusstsein entwickelt haben könnte. Aus welcher Perspektive wird dann betrachtet? Was geschieht dann mit der Wahrheit?
Oft genug bekommt die Wahrheit Risse, sie eckt an, sie franst aus, sie glänzt uns etwas vor, und dabei ist es doch nur ihre Verkehrung, die da glänzt, unter dem funkelnden Lack ein mattes Gespenst. Der Betrug an der Wahrheit hat Hochkonjunktur. Der Versuch, sie zu demolieren. Kerben in sie zu schlagen. Sie wird bedroht, Furchen mäandern über ihr Gesicht, sie geifert mich an, mit diesen Ungeheueraugen, dem dämonenhaften Blick, ich habe Angst, wenn sie mit all der Gewalt ihrer Motoren durch mich hindurchgeräuscht, meine Kraft raubt. Die Wahrheit wirft auch Schatten. Das Blut der Bilder aus dem Krieg, eine Frau, die von einer Bank gefallen ist. Angst beschleicht mich: Verbrannte Haut und Blut. Alles rot. Eine Wahrheit: Etwas Ungeheuerliches geschieht: Die Demokratie ist bedroht. Europa. Die Wahrheit, von der wir sprechen, ist kein Gespenst, das beliebig Gestalt und Farbe annehmen kann. Die Wahrheit ist keine Verkleidung.
Und ich stehe nicht mehr vor dem Spiegel und glaube an die Superkräfte von roter Zauberfarbe und grünem Flugumhang. Ein rotes Gesicht verbinde ich heute oft – wie Mutter damals – mit Angst. Mit Hilflosigkeit. Mit Wut. Mit Tod. Meine Phantasie stößt zunehmend oft an Grenzen. Ich schotte mich ab, vertraue nicht – habe Angst. Die Wahrheit löst Unbehagen in mir aus. Um mit den Worten Simone Weils zu sprechen: Es ist die Schwerkraft der Begegnung, die mich lähmt. Die Begegnung mit der Wahrheit. Naturgesetz trifft auf persönliche Wirklichkeit.
Heute, an diesem Maimorgen, dem internationalen Tag des friedlichen Zusammenlebens, möchte ich die Schwerkraft ablegen, die Phantasie meine Superheldin feiern, die Wahrheit im Guten wahren, gegen Ungeheuer wahre Sätze finden. Eine kleine weiße Fluse findet durch das Zimmerfenster herein, Pappelflaum gleitet durch den Raum und wirft kleine Schatten auf die Seiten meines Notizbuchs. Und ich frage mich, sind die Schatten weniger wahr als das Fasergeflecht, das jetzt zwischen meinem Daumen und meinem Zeigefinger zur Ruhe kommt?
von Evelyn Bubich
Ökumenischer Bergeweg
Jedes Jahr am zweiten Sonntag nach Ostern sind Sie eingeladen mitzupilgern - oder Sie wandern hier virtuell per Mausklick und bekommen:
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Wege zur Solidarität
Protestanten + Slowenen entdecken einander
Mit der Wanderausstellung „Wege zur Solidarität. Protestanten und Slowenen entdecken einander“ hat die Evang. Kirche Kärnten/Osttirol einen wichtigen Akzent gesetzt im Gedenkjahr 2020 zur Kärntner Volksabstimmung.
Das Ausstellungsprojekt, das die Beziehung der beiden Kärntner Minderheiten darstellt und die Gemeinsamkeiten, Konflikte und Begegnungswege aufzeigt, wurde von der Evangelischen Akademie Kärnten initiiert und durchgeführt. „Gedenken – Erinnern – Versöhnen“ ist der Leitgedanke, unter dem der Ausstellungskurator DDr. Alexander Bach die historische Entwicklung dieser Beziehung von der Reformationszeit bis in die Gegenwart vor Augen führt.
Schon in den Jahren 2008-2010 hatte er einem vom Land Kärnten und vom Unterrichtsministerium geförderten Projekt der EAK in beeindruckender Weise herausgearbeitet, wie nach einem Nebeneinander und Gegeneinander die beiden Minderheiten ihre je eigene Bedeutung erkennen und zu einem solidarischen Miteinander finden. Dabei werden maßgebliche Persönlichkeiten, Entwicklungen und geschichtliche Ereignisse in Wort und Bild übersichtlich dargestellt.
Die Wanderausstellung wurde am 5. Juni 2020 im Evang. Museum Fresach von SI Manfred Sauer im Beisein von Landtagspräsident Reinhard Rohr feierlich eröffnet.
Mitgetragen ist dieses Projekt vom katholischen Bildungshaus Sodalitas Tainach/Tinje.
Die Ausstellung geht ins Land und kann zur Ausstellungspräsentation von Institutionen angemietet werden.
Infos: Akademiebüro
Gospelworkshop
Lieder von Leiden und Hoffnung
Seit 2015 veranstaltet die EAK im Frühjahr jährlich Gospelworkshops – mit der international bekannten, schon pensionierten, aber aktiven und inspirierenden afroamerikanischen Kirchenmusikerin Flois Knolle-Hicks/ Berlin und ihrem Mann Konrad Knolle.
An diesen Wochenenden geht es nicht nur um begeisterndes Singen zu Spirituals, die hierzulande kaum bekannt sind, sondern es geht um die Hintergründe afroamerikanischer Spiritualität, die Auflehnung gegen Rassismus und Unterdrückung und die Kraft des Evangeliums, die auch gesellschaftspolititsche Veränderung impliziert.
THEMEN über die Jahre:
- Wer glaubt, flieht nicht - Dietrich Bonhoeffer (2015)
- Lieder von Leiden und Hoffnung (2016)
- Endstation Sehnsucht - Migration (2017)
- Auf dem Gipfel des Berges - Martin Luther King (2018)
- Mut zur Vergebung - Nelson Mandela (2019)
- mutig, fromm + provokant | Sojourner Truth - eine schwarze Sklavin begehrt auf: "Ain`t I a women?" (2023)
- Frieden ist nicht alles...-...aber alles ist ohne Frieden nichts! (2024)
Theologisches Quiz
Haben Sie Lust, Ihr theologisches Wissen anhand eines kleinen Theologischen Quiz zu erproben? Viel Spaß!
Wenn Sie Lust bekommen haben, sich näher mit Themen des Glaubens und der Theologie zu beschäftigen: Der THEOLOGISCHE GRUNDKURS "typisch evangelisch" ist eine einführende und niederschwellige Gelegenheit dazu. Er wird regelmäßig angeboten (siehe Programm)
Alles in uns schweige…
Musikalisch-literarische Collage zu Liedern und Texten des evang. Mystikers GERHARD TERSTEEGEN
Viele bekannte Kirchenlieder stammen aus der Feder des evang. Mystikers Gerhard Tersteegen. Sie bieten einen Schatz an spirituellen Kostbarkeiten, der für unsere Zeit neu entdeckt + neu interpretiert werden sollte.
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Referenten/Referentin:
Günter LENART, Saxophon
Thomas WASSERFALLER, Gesang; Domkapellmeister
Martin LEHMANN, Orgel; Diözesankantor
Martin MÜLLER, Moderation+Texte; Leiter der EAK
Laura HARBUSCH, Gemeindepraktikantin in Waiern
Publikationen
- PROTESTANTEN UND SLOWENEN IN KÄRNTEN. Alexander Hanisch-Wolfram, Wege und Kreuzwege zweier Minderheiten 1780 -1945, ed. Evangelische Akademie Kärnten, Klagenfurt 2010
- TRENDS & PERSPEKTIVEN EVANGELISCHER ERWACHSENENBILDUNG am Beispiel der EAK, Veronika Gaugeler-Senitza, Masterarbeit, Alpe Adria Universität Klagenfurt 2015
- DIALOG UND KULTUR, edd. P. Karpf, W. Platzer, M. Polzer-Srienz, U. Puschnig, Kärnten Dokumentation 2020 Bd. 36 (darin: Wege zur Versöhnung. Evangelische und Kärntner Slowenen entdecken einander. Ein Projekt der Evangelischen Akademie Kärnten zum Gedenkjahr 2020
- GLAUBWÜRDIG BLEIBEN - 500 Jahre protestantisches Abenteuer. Ed. Wilhelm Wadl, Wissenschaftlicher Begleitband zur Kärntner Landesausstellung 2011 Fresach, Klagenfurt 2011
- KULTURWANDERUNGEN - Alexander Hanisch-Wolfram, Auf den Spuren der Protestanten in Kärnten, Klagenfurt 2010 (215 Seiten)
- GLAUBE, DER IN DER LIEBE TÄTIG IST. Ernst Schwarz und die Diakonie in Waiern, Alexander Hanisch-Wolfram, Verlag des Kärntner Landesarchivs, Klagenfurt 2011